Universität Heidelberg
Institut für politische Wissenschaft
Sommersemester 1998
Proseminar: Theorie und Praxis der Politikverflechtung
Leitung: Dr. Ute Wachendorfer-Schmidt
Autor: Mathias Wieland

Wie aktuell ist die »Politikverflechtungsfalle«?







Inhalt

I. Einleitung

Fritz W. Scharpf ist einer der bedeutendsten Föderalismus-Forscher in der BRD. Er hat zusammen mit seinen Kollegen Reissert und Schnabel in den 70er Jahren eine umfassende Theorie über den Föderalismus der Bundesrepublik entwickelt (Scharpf u.a. 1976). Diese Theorie versucht den Einfluß von bestimmten Strukturen auf den Prozeß des policy-makings zu erklären. Also untersucht er, wie die Verflechtung die Politikergebnisse beeinflußt. Der Schluß der Untersuchung war, daß die Politikverflechtung zu ineffizienter, den Problemen nicht angemessener Politik führt.
In seinem Aufsatz die »Politikverflechtungsfalle« von 1985 versucht Scharpf den Geltungsbereich seiner Theorie der Politikverflechtung auszudehnen. Er wendet sie auf die Entscheidungsstrukturen in der Europäischen Union an. Das Ergebnis von Scharpfs Ausführungen ist, daß die institutionellen Strukturen der europäischen Gemeinschaft suboptimale Ergebnisse systematisch begünstigen und darüber hinaus eine Veränderung der Entscheidungsstruktur verhindern. Die Politikverflechtung in der EU führt also in eine »Politikverflechtungsfalle«.
Allerdings ist diese These in einen historischen Kontext einzuordnen. Zumindest bis 1985 gab es eine lange Phase der Stagnation des europäischen Einigungsprozesses und Scharpf suchte die Ursachen dafür.
In der nun folgenden Arbeit soll die These der »Politikverflechtungsfalle« erläutert und hinterfragt werden. Zuerst folgt ein kleiner Exkurs zur Politikverflechtung in der BRD und in die Politikverflechtungstheorie von Scharpf. Danach werde ich die Politikverflechtung der Europäischen Union mit ihren Mitgliedsstaaten und dabei die wichtigsten Institutionen bearbeiten. Im Anschluß daran werde ich untersuchen, ob die Politikverflechtungstheorie sich auf die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union anwenden läßt und damit Scharpfs Aussagen schlüssig sind.
Abschließend werde ich diskutieren, ob die weiteren Integrationsschritte, die die europäische Union nach dem Erscheinen des Artikels von Scharpf gemacht hat, der These von einer »Politikverflechtungsfalle« widersprechen oder sie bestätigen.

II. Die Falle

II.1. Politikverflechtung in der Bundesrepublik

Die BRD ist ein föderaler Staat mit starker Verzahnung zwischen Bund und Ländern (Gebietskörperschaften). Die meisten Aufgaben werden vom Zentralstaat und den Ländern gemeinsam ausgeführt (vgl. Schmidt 1994: 11,75).
Dies steht im Gegensatz zum Föderalismus der USA, in denen der Bund und die Bundesstaaten voneinander abgeschottet sind. Dort haben der Zentralstaat und die Gebietskörperschaften relativ autonome Gestaltungsbereiche.
Aus diesen Verhältnissen leiten sich die Begriffe: dualer (separativer) Föderalismus für die USA und kooperativer (verzahnter) Föderalismus für die Bundesrepublik ab.
Für die BRD heißt dies, daß die Aufgaben zwischen Bund und Ländern nach Funktionen getrennt sind, und nicht nach Sachgebieten. So liegt der größte Teil der Gesetzgebungskompetenz (Legislative) beim Bund. Die Länder haben ihrerseits eine überwiegend administrative (exekutive) Funktion (Art. 83 GG). Sie führen die meisten Gesetze aus, auch die solche Gesetze, die in alleiniger Verantwortung des Bundes liegen. Im Gegenzug bekommen die Landesregierungen sehr weitgehende Mitwirkungsrechte über den Bundesrat und können so die Bundesgesetzgebung mitbestimmen. Dieser Einfluß der Länder ist nicht unwesentlich, denn ca. 60% der Gesetze erfordern die Zustimmung des Bundesrates (vgl. Reissert 1996: 555). So können weder der Bund noch die Länder autonom handeln. Sie müssen fast immer kooperieren. Diese Zusammenarbeit existiert in der Bundesrepublik auf zwei Ebenen:
Einerseits sind Bund und Länder vertikal miteinander verflochten. Beispiele für diese Verflechtung sind die Mitwirkung der Landesregierungen an Bundesgesetzgebung über den Bundesrat, Mitfinanzierung von Länderaufgaben durch den Bund (Beispiel: Bildungsplanung und Forschung, vgl. 91 GG), die Koordination von einzelnen Politikfeldern in verschiedensten Bund-Länder-Gremien (z.B. der Finanzplanungsrat).
Andererseits existiert eine horizontale Verflechtung zwischen den Bundesländern (die dritte Ebene). Beispielsweise stimmen die Kultusminister der Länder die Bildungspolitik in der Kultusministerkonferenz (KMK) ab. Weiterhin existiert ein horizontaler Länderfinanzausgleich, der die Einheitlichkeit (vgl. 106 GG) bzw. Gleichwertigkeit (vgl. 72 GG) der Lebensverhältnisse in allen Bundesländern gewährleisten soll.
Für diese Verzahnung der Entscheidungsfindung, in der weder der Bund noch die Länder autonom handeln können, prägte Fritz W. Scharpf den Begriff »Politikverflechtung« und entwickelte gleich eine komplette Theorie dazu (Scharpf u.a. 1976).

II.2. Die Theorie der Politikverflechtung

Die Politikverflechtungstheorie versucht den Einfluß der Politikverflechtung (also der Struktur) auf den Prozeß der Politikformulierung und seine Ergebnisse zu untersuchen. Der Geltungsbereich der »ursprünglichen« Theorie von 1976 erstreckt sich auf die vertikale Politikverflechtung, d.h. insbesondere auf die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern und Investitionshilfen des Bundes an die Länder. In diesen Bereichen wurden empirische Studien angefertigt (vgl. Scharpf 1978: 29).
Ausgangspunkt der Politikverflechtungstheorie ist die Inkongruenz von Entscheidungsstruktur und Problemstruktur. Die Entscheidungsstrukturen in der BRD sind sehr begrenzt und spezialisiert. Andererseits gibt es aber drängende komplexe Probleme. Das bedeutet, daß die Probleme für einzelne Akteure (Entscheider) des politischen Systems zu kompliziert sind (Beispiel: Massenarbeitslosigkeit). Solche Probleme werden auch Dezentralisierungsprobleme genannt (vgl. Schmidt 1994: 19). Bei diesen wird zwischen folgenden Typen unterschieden:
* Niveauprobleme, die Steigerung oder Verminderung des Leistungsniveaus dezentraler Einheiten erfordern
* Niveaufixierungsprobleme, die darüber die Kontingentierung von Leistungen dezentraler Einheiten erfordern
* Komplexe Verteilungsprobleme, die Kontingentierung erfordern
* Interaktionsprobleme, die eine gemeinsame Entscheidungsplanung fordern
Diese Dezentralisierungsprobleme lassen sich durch Politikverflechtung lösen (vgl. Schmidt 1994: 19).
Mit Niveauproblemen kann ein »politikverflochtenes« System gut umgehen. So steigerten die Bundesländer die Ausgaben des Bundes für Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen (vgl. Scharpf 1985: 329). Bei der Verarbeitung von Interaktionsproblemen dagegen weisen Systeme mit starker Politikverflechtung besonders auffällige Schwächen auf. Ein Beispiel für ein solches Verteilungs- bzw. Interaktionsproblem ist die regionale Wirtschaftsförderung. Aus dem anfangs guten Ansatz wurde durch Blockade der durch vorherige Regelungen begünstigten Länder nichts (vgl. Scharpf 1985: 329f). Ein weiteres Beispiel war die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern. Nach langwierigen Verhandlungen kamen nur unbefriedigende Ergebnisse heraus. 1982 wurde dieser Versuch der Einigung aufgegeben (vgl. Scharpf 1985: 328).
Doch durch Strategien der Minimierung des Konsensbedarfs läßt sich zumindest eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner erzielen. Einige solcher Strategien sind: die Verminderung der Zahl der Beteiligten, Aufspaltung der Entscheidungsprozesse in Segmente, Konfliktvertagung und Besitzstandswahrung. Damit haben Akteure aber nur ein beschränktes Handlungsrepertoire. Dies führt dazu, daß Systeme mit Politikverflechtung nur zur Lösung von Niveauproblemen, aber nicht zur Bearbeitung von Verteilungs- und Interaktionsproblemen in der Lage sind (vgl. Scharpf 1978: 28).
Die Entscheidungen, die durch Anwendung dieser konfliktminimierenden Strategien erzielt werden, sind nur Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das heißt, daß die Politikergebnisse den Problemen, die sich der Politik stellen nicht gerecht werden. Solche Ergebnisse werden auch als suboptimal bezeichnet.
Somit stellt die Politikverflechtung eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit der Politik dar (vgl. Schmidt 1994: 19).
Die Politikverflechtungstheorie war ursprünglich nur für die vertikale Verflechtung entwickelt worden. 1989 versucht Scharpf den Geltungsbereich der Theorie auf die horizontale Politikverflechtung zwischen den Bundesländern auszudehnen (vgl. Scharpf 1989: 61). Dabei kommt er zu dem Schluß, daß die Länder sich untereinander einig sein müssen, um über den Bundesrat Gesetze zu verhindern, die für die Länder Nachteile bringen bzw. Gesetze zu beschließen, die für alle Länder vorteilhaft sind.
Dies heißt am Beispiel des Länderfinanzausgleichs, daß die Bundesländer mehr oder weniger gezwungen sind, im Bundesrat einstimmig abzustimmen. Denn das gesamte Steuerrecht wird von Bundesgesetzen bestimmt, die aber im Bundesrat zustimmungspflichtig sind und so nur durch Einigkeit der Länderregierungen beeinflußt werden können. Konkret können die Länder so eventuelle zusätzliche Belastungen abwehren oder sogar mehr Umsatzsteueranteil beim Finanzausgleich herausholen (vgl. Scharpf 1989a: 85).
Durch diesen Einigungszwang dem die Landesregierungen im Bundesrat ausgesetzt sind, müssen die oben erwähnten konfliktminimierenden Maßnahmen ergriffen werden. Diese erzeugen aber wiederum suboptimale Ergebnisse. Deswegen spricht Scharpf sowohl bei der vertikalen als auch bei der horizontalen Verflechtung von einer »Falle« in der die Politikverflechtung steckt (vgl. Scharpf 1989a: 60; 89).
Er schreibt ganz allgemein:
»[...] je riskanter und unübersichtlicher die Lage, desto weniger ist die bundesdeutsche Politik zu Innovationen fähig, und desto mehr verfestigt sich der Status Quo der bestehenden Regelungssysteme.« (Scharpf 1994b: 165)

II.3. Politikverflechtung in der Europäischen Union

Die Europäische Union ist in ihren formalen Strukturen dem deutschen Verbund-Föderalismus nachgebildet und keineswegs dem Trenn-Föderalismus der USA (vgl. Scharpf 1995: 224). Das heißt es handelt sich bei der Europäischen Union auch um ein System der Politikverflechtung. Um im nächsten Abschnitt die These der »Politikverflechtungsfalle« besser herauszuarbeiten, werden hier die Institutionen der EU kurz vorgestellt.

Der Ministerrat und der Europäische Rat

Der Ministerrat[1] als auch der Europäische Rat sind Gremien der Regierungskooperation. In den Ministerrat entsenden die nationalen Regierungen ihren für die anstehenden Fragen zuständigen Fachminister. So gibt es für fast jedes Politikfeld einen separaten Rat. Der Vorsitz wechselt halbjährlich nach einem festgelegtem Turnus. Im Europäischen Rat arbeiten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und der Präsident der EU-Kommission zusammen. Der Europarat tagt mindestens zweimal im Jahr. Bei Bedarf auch öfter. Der Vorsitz wechselt ebenso wie im Ministerrat halbjährlich (vgl. Scharpf 1991: 118).
Der Ministerrat und der Europäische Rat sind die eigentlichen Entscheidungszentren der Europäischen Union. Der Rat ist insofern eingeschränkt, daß er nur auf der Grundlage eines Entwurfs der Kommission einen Beschluß fassen darf (vgl. Rometsch 1995: 164). Alle Entscheidungen mußten bis zur Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) einstimmig getroffen werden. Erst danach wurden im Ministerrat auch verstärkt Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip gefaßt. Trotz der formalen Einführung von Mehrheitsentscheiden sind wichtige Entscheidungen immer noch auf die deutsche und die französische Unterstützung im Rat angewiesen (Scharpf 1991: 118).

Die Kommission und das Europäische Parlament

Die Europäische Kommission ist neben dem Parlament das einzige supranationale (über den Nationalregierungen stehende) Entscheidungsorgan. Sie besteht aus 20 Kommissaren, die von den Mitgliedsstaaten nach Zustimmung des europäischen Parlaments ernannt werden. Diese EU-Kommissare sind unabhängig von ihren Regierungen (vgl. Rometsch: 166). Die Kompetenzen der Kommission sind sehr beschränkt: sie hat Initiativrecht gegenüber dem Ministerrat. Die Vorlage verabschieden kann aber nur der Rat selbst (vgl. Rometsch: 161). Unter dem Vorsitzenden Jaques Delors (1985-1995) hat die Kommission an politischem Profil gewonnen und ist in Bereiche vorgedrungen, die der klassischen Regierung entsprechen (vgl. Rometsch: 167). Im Gegensatz dazu schreibt Scharpf, daß die Kommission nur unter günstigen Umständen die eigene Handlungsfähigkeit gegenüber den Nationalstaaten gewinnen kann (vgl. Scharpf 1989: 94).
Das Europäische Parlament (EP) wird seit 1979 direkt von den EU-Bürgern gewählt. Und hat damit höhere demokratische Legitimation als zuvor. Leider sind die Befugnisse des Parlaments sehr eingeschränkt. Bis zur Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) war die Einflußnahme des Parlaments auf die Abgabe von Stellungnahmen zu den Vorlagen der Kommission an den Rat eingeschränkt. Diese waren aber nicht bindend. Nach 1987 wurde die Beteiligung des EPs an den Entscheidungen in der EU gestärkt. Die Kommission mußte von nun an durch das Parlament bestätigt werden. Weiterhin hat das Parlament ein Vetorecht u.a. bei Fragen des Binnenmarktes, der Kultur und Bildung und kann jetzt Untersuchungsausschüsse einsetzen (vgl. Krätschel 1995: 17f). Diese zusätzlichen Rechte für das EP machen die Entscheidungsprozesse der EU noch komplizierter und ineffizienter, deshalb wird das Parlament eher als Störfaktor denn als Repräsentant des EU-Souveräns (der Bürger Europas) angesehen (vgl. Seeler 1992: 65).
Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurden zwar die Rollen der Kommission und des Parlaments gestärkt, aber der Rat ist nach wie vor das Entscheidungszentrum der Europäischen Union. Damit überwiegen immer noch die Gremien der Regierungskooperation (Europäischer Rat und Ministerrat) und nicht die supranationalen Gremien (Kommission und Parlament). Die Europäische Union ist also eher als intergouvernementaler Zusammenschluß zu bezeichnen, denn als supranationales Gebilde.

II.4. Die »Politikverflechtungsfalle«

Scharpfs These einer möglichen »Politikverflechtungsfalle« der Europäischen Union ist im Kontext der Situation in Europa am Anfang der 80er Jahre zu sehen. Die Integration stagniert schon seit mindestens einem Jahrzehnt. Auch bei den Politikern herrscht Frustration über die geringen Fortschritte des europäischen Integrationsprozesses. Der Politologe Weidenfeld beschreibt diese Situation im Jahre 1984 so: »Europa bewegt sich seit geraumer Zeit mit der Geschwindigkeit einer Schnecke.« (Weidenfeld 1984: 81) Und der abgewählte Bundeskanzler Helmut Kohl tituliert die Zeit vor seinem Amtsantritt (1982) mit dem Begriff »Eurosklerose«[2].
Die wichtigste Ursache für diese Stagnation sieht Scharpf im Aufbau und der Zusammensetzung der europäischen Institutionen (siehe Abschnitt Politikverflechtung in der EU). Die Entscheidungszentren sind der Ministerrat, der Europarat und begrenzt die Kommission.

Einstimmigkeitsprinzip

Scharpf schreibt, daß die Interessen der einzelnen Nationalstaaten zu stark im Politikprozeß der europäischen Gemeinschaft vertreten seien. Dies bedeutet, daß vor allem zu viele Entscheidungen im Ministerrat (und im Europäischen Rat) getroffen werden. Denn das Aushandeln eines Konsenses zwischen den Nationalstaaten führe zu suboptimalen Ergebnissen. Schuld daran ist der Abstimmungsmodus mit dem die Minister im Ministerrat bzw. Regierungschefs im Europäischen Rat ihre Entscheidungen fällen. Diese müssen Konsensentscheidungen sein, also einvernehmlich ausgehandelt werden (vgl. Scharpf 1985: 334). Diese Entscheidungsregel ist verantwortlich für die klaren Problemlösungsdefizite der Europäischen Union (z.B. auf dem Politikfeld der Agrarpolitik[3]).
Das Problem am Prinzip der Einstimmigkeit ist, daß durch diese Entscheidungsfindung ein einzelnes Land bestimmte Gesetze oder auch den ganzen Rat blockieren kann, indem es einfach sein Veto einlegt. Beziehungsweise ein Nationalstaat nutz seine Veto-Position, um andere Länder zu weitgehenden Kompromissen zu zwingen.
Ein Beispiel dafür ist der Luxemburger Kompromiß. Der EWG-Vertrag schrieb vor, daß mit dem 1.1.1966 das Einstimmigkeits- durch das Mehrheitsprinzip im EG-Ministerrat ersetzt werden sollte. Die französische Regierung (mit Charles de Gaulles an der Spitze) war aber dagegen. 1965 zog diese im Streit um die EG-Agrarpolitik ihren Vertreter aus dem Ministerrat zurück und verursachte damit die erste größere Krise der EG. Diese Politik des »leeren Stuhls« wurde durch den Luxemburger Kompromiß (1966) beigelegt. Dieser ließ das Einstimmigkeitsprinzip bei »sehr wichtigen Interessen« eines Staates zu (vgl. Weidenfeld 1995: 377). Seitdem litt der Ministerrat an einer Entscheidungsschwäche (vgl. Seeler 1992: 65). Denn ein einziges Land konnte mit seinem Veto jede Entscheidung blockieren.
Dies zeigt, daß die Verhandlungen im Ministerrat keineswegs zu ausgewogenen Entscheidungen führen, sondern eher suboptimale Ergebnisse erzeugen: »Das Einstimmigkeitsprinzip impliziert die Gefahr der Selbstblockierung der Politikverflechtung.« (Scharpf 1985: 347)

Warum keine Mehrheitsentscheide?

Das Einstimmigkeitsprinzip kann also zur Blockade von Entscheidungen führen. Nun steht die Frage im Raum, warum nicht einfach das Einstimmigkeitsprinzip durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ersetzt wurde. Dann könnte auch kein Nationalstaat mehr durch sein Veto den ganzen Politikprozeß lahmlegen.
Eine Veränderung wird durch die nationalen Regierungsinteressen im Ministerrat verhindert. Denn eine Änderung des Einstimmigkeitsprinzips müßte ja wiederum einstimmig im Ministerrat beschlossen werden. Kein Land möchte sich natürlich dieses Veto-Rechts selbst berauben. Deshalb kommt es nicht zur Einführung von Mehrheitsentscheiden.
Ein gescheitertes Beispiel für die Einführung des Mehrheitsprinzips war ja bereits der Luxemburger Kompromiß, aber es gab 1981 noch einen weiteren. In diesem Jahr wurde eine deutsch-italienische Initiative, der Genscher-Columbo-Plan gestartet. Darin wurde unter anderem eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip gefordert. Statt dessen sollten qualifizierte Mehrheitsentscheidungen eingeführt werden. Als dieser Antrag dann die Mühlen des europäischen Entscheidungsprozesses durchlaufen hatte, waren die institutionellen Änderungen fast vollständig gestrichen. Das einzig Erwähnenswerte war eine Empfehlung, die Möglichkeiten der Stimmenthaltung mehr zu nutzen, statt durch Veto die Entscheidungen zu blockieren (feierliche Deklaration zur europäischen Union, vgl. Weidenfeld 1984: 84f).
Kurz: Kein Land will auf seine nationalstaatliche Souveränität verzichten und Mehrheitsentscheide einführen. Aber mit der Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips werden weiterhin nur suboptimale Politikergebnisse erzielt. Somit befindet sich nach Scharpf die Europäische Union in einer »Politikverflechtungsfalle«. Diese besteht im Sinne einer
»Entscheidungsstruktur, die aus ihrer institutionellen Logik heraus systematisch [...] ineffiziente und problem-unangemessene Entscheidungen erzeugt, und die zugleich unfähig ist, die institutionellen Bedingungen ihrer Entscheidungslogik zu verändern - weder in Richtung auf mehr Integration noch in Richtung Desintegration.« (Scharpf 1985: 350)
Mit anderen Worten: Die Akteure können zwar mehr oder weniger gute Kompromisse aushandeln. Aber sie schaffen es nicht, die Entscheidungsstrukturen nach denen sie die Kompromisse ausgehandelt werden zu ändern (vgl. Scharpf 1994a: 7).
In der »Politikverflechtungsfalle« sieht Scharpf die Ursache für die Phase der Stagnation des europäischen Einigungsprozesses. Diese dauerte bis zur Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Jahre 1986 (vgl. Scharpf 1989a: 95). Seeler spricht sogar von einer Dauerkrise der EG in den 60er und 70er Jahren (vgl. Seeler 1992: 58).

Politikverflechtungstheorie und EU?

Wie im Abschnitt II.3. schon beschrieben, gleicht die Europäische Union in ihren Grundstrukturen dem deutschen Föderalismus. Bei der Analyse der Problemlösungsfähigkeit der EU griff Scharpf auf seine Politikverflechtungstheorie zurück. Die hatte er aber bis dato nur für den deutschen Föderalismus formuliert. Somit stellt sich die Frage, ob Scharpfs Theorie überhaupt auf die Europäische Union übertragbar ist.
Rein institutionell lassen sich folgende Parallelen feststellen:
In der BRD haben die Länderregierungen über den Bundesrat Mitspracherecht an der Bundesgesetzgebung. Genauso haben auf europäischer Ebene die Regierungen der Nationalstaaten Mitspracherecht an der europäischen Gesetzgebung. Dies passiert einerseits über den Ministerrat und den Europäischen Rat und andererseits über die Europäische Kommission, deren Mitglieder zwar von den nationalen Regierungen entsandt werden, aber nicht weisungsgebunden sind.
Unterschiedlich ist die Rolle der Zentralregierung:
In der Bundesrepublik gibt es eine starke Bundesregierung mit sehr vielen Kompetenzen. Legitimiert ist sie durch den Bundestag. So eine starke Zentralgewalt existiert in der Europäischen Union nicht. Die Kommission hat zwar mit der Einheitlichen Europäischen Akte mehr Kompetenzen bekommen, aber diese entsprechen noch nicht der einer vollwertigen Regierung. Vor der Verabschiedung der Akte war sie noch nicht einmal durch das EU-Parlament legitimiert (vgl. Scharpf 1985: 326).
Auch vom Abstimmungsmodus gleichen sich Bundesrepublik und Europäische Union:
Im europäischen Ministerrat galt zumindest von 1966 bis 1986 uneingeschränkt das Einstimmigkeitsprinzip. Im Bundesrat gilt faktisch auch das Einstimmigkeitsprinzip. Und zwar liegt das an der grundsätzlichen Solidarität der Länder untereinander. Die Landesregierungen haben gemerkt, daß sie sich nur erfolgreich gegen den Bund durchsetzen können, wenn sie sich im Bundesrat nicht parteipolitisch gegeneinander ausspielen lassen, sondern konsequent Länderinteressen vertreten und gemeinsam gegen den Bund durchsetzen (vgl. Scharpf 1985: 328).
Diese Übereinstimmungen rechtfertigen meiner Meinung nach die Übertragung der Politikverflechtungstheorie auf die Europäische Union. Auch wenn die Europäische Kommission noch schwächer als eine Regierung ist.
Es lassen sich sogar ähnliche Konstellationen von Interessen sowohl in der BRD als auch in der EU feststellen. Genauso wie die Änderung des Länderfinanzausgleichs an den Netto-Empfänger-Ländern in der BRD scheitert, wird auf europäischer Ebene eine Änderung der Agrarpolitik von den Ländern blockiert, die von den Zuschüssen profitieren.
Zum Länderfinanzausgleich der Bundesrepublik meint Scharpf:
»In diesem Sinne also erweist sich die deutsche Politikverflechtung in der Tat als institutionelle Falle: das gegenwärtige Gleichgewicht ist zwar für alle Beteiligten höchst unkomfortabel, aber für jeden einzelnen von ihnen erscheint sie als das kleinere Übel im Vergleich zu den Bedingungen, unter denen die anderen einer Änderung allenfalls zustimmen könnten. Und da alle dies wissen, kommt die Reform der Finanzverfassung gar nicht erst auf die Tagesordnung.« (Scharpf 1989a: 89)
Aber auch die Verflechtung der Europäischen Union steckt in einer institutionellen Falle. Dies führt Scharpf am Beispiel der Agrarpolitik vor. Auf diesem Politikfeld kommt die EU einem Bundesstaat gleich. Die Nationalstaaten haben ihre Souveränitätsrechte für die Agrarpolitik an die EU übertragen und sind jetzt an die Entscheidungen der EU gebunden (vgl. Scharpf 1985: 331). Deshalb ist dieses Politikfeld auch am ehesten mit der BRD vergleichbar. Nun argumentiert Scharpf weiter, daß auf diesem Politikfeld auch die meisten suboptimalen Ergebnisse zu verzeichnen sind. Er meint, daß die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) ihre selbstgesteckten Ziele nicht erreicht hat. Weil es immer noch keinen wirklich freien Markt für Agrarprodukte und immer noch nicht genug Einkommen für die europäischen Kleinbauern gibt (vgl. Scharpf 1985: 331). Vor allem verschlingen die Agrarsubventionen mehr als die Hälfte des gesamten EU-Haushalts.
Nur eine Änderung dieser Regelungen scheitert an den Empfängerländern der Agrarsubventionen. Diese können dank des Einstimmigkeitsprinzips ihr Veto gegen eine solche Entscheidung einlegen. Das hat sich auch später nicht geändert, denn Scharpf schreibt 1995, daß eine Einigung an dem polit-ökonomischen Interessenkonflikt zwischen ökonomisch hochentwickelten und weniger entwickelten Mitgliedsstaaten scheitert (vgl. Scharpf 1995: 228).
Interessanterweise sieht Scharpf sowohl für die EU als auch die BRD nur einen Ausweg aus der »Politikverflechtungsfalle«. Auf europäischer Ebene fordert Scharpf eine Entflechtung von Union und Nationalstaaten (vgl. Scharpf 1991: 122). Ebenso müssen in der Bundesrepublik für eine optimalere Politik die Bundesländer und der Bund entflochten werden. Das erfordert aber eine Neugliederung der Bundesländer. Nur diese scheitert wiederum am Widerstand der kleinen Länder (Scharpf 1989a: 87). Genauso scheitert die Entflechtung von EU und ihren Mitgliedsstaaten daran, daß keiner dieser Staaten mehr von seinen Souveränitätsrechten abgeben will.

III. Wo schnappt die Falle zu?

Scharpf sagt in seiner These der »Politikverflechtungsfalle«, daß das Einstimmigkeitsprinzip auch institutionelle Reformen der Entscheidungsstrukturen blockiere. Ob dies auch für die Einheitliche Europäische Akte und den Maastrichter Vertrag nach dem Erscheinen seines Textes zutrifft, soll im folgenden diskutiert werden. Am Ende gehe ich noch kurz auf die zu erwartenden Probleme einer Osterweiterung der Europäischen Union ein.

III.1. Die Einheitliche Europäische Akte

Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) machte den Weg für die Vollendung des europäischen Binnenmarktes frei. Dazu mußten eine große Anzahl von Verordnungen und Beschlüssen verabschiedet werden. Dafür war aber eine effektivere Entscheidungsstruktur auf europäischer Ebene nötig (vgl. Engel/Wessels: 5). So wurden die seit dem Luxemburger Kompromiß üblichen Einstimmigkeitsentscheide durch Mehrheitsentscheide ersetzt. Diese waren aber sachbezogen auf Beschlüsse zur Vollendung des Binnenmarktes beschränkt. Ebenfalls wurden die Kompetenzen der supranationalen Entscheidungsorgane ausgebaut. Die Akte erweiterte die Rechte des Europa-Parlaments und der Europäischen Kommission (vgl. Krätschel: 17f). Wie konnte dies trotz der »Politikverflechtungsfalle« geschehen?
Scharpf meint dazu, daß die EEA die Entscheidungsstrukturen nur minimal verändert hat, denn für alle nicht den Binnenmarkt betreffenden Entscheidungen gilt nach wie vor das Einstimmigkeitsprinzip (vgl. Scharpf 1989b: 94). Im Gegenzug wurden aber bei den Sachentscheidungen geschickte Strategien zur Minimierung des Konsensbedarfs benutzt und so die sehr weitgehende Vollendung des Binnenmarktes bis 1992 beschlossen (vgl. Scharpf 1989b: 97). Scharpf kritisiert somit die einseitige Fixierung der Reformen auf den Binnenmarkt, die keine grundlegende Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit der EU brachte.
Diese Ansicht ist aber nicht unumstritten. So wird die EEA auch gelobt, weil sie mehr Transparenz und Effizienz in das europäische Institutionengefüge gebracht habe (vgl. Engel/Wessels: 64). Und selbst Scharpf schreibt, daß die Kommission faktisch und das Parlament rechtlich an Einfluß gewonnen habe (vgl. Scharpf 1995: 225). Also waren die EU-Mitgliedsstaaten trotz allem doch bereit, Souveränitsrechte an die übergeordnete Ebene abzugeben.

III.2. Der Maastrichter Vertrag

Nach der Vollendung des Binnenmarktes zum 1.1.1993 kam es zur Verabschiedung des Maastrichter Vertrages. Dieser machte den Weg in eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion frei. Er brachte aber auch weitere institutionelle Reformen. So wurden qualifizierte Mehrheitsentscheide in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt. Diese müssen aber auf einen einstimmigen Ministerratsbeschluß zurückgehen. Weiterhin bekam das Europa-Parlament u.a. für die Bereiche Binnenmarkt und Verbraucherschutz Mitentscheidungskompetenz (vgl. Weidenfeld/Wessels 1995: 58).
Scharpf sieht mit diesen Neuerungen des Maastrichter Vertrages nur seine »Falle« bestätigt (vgl. Scharpf 1994a: 7f). Die Entscheidungsverfahren sind immer noch schwerfällig und können durch Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedsstaaten leicht blockiert werden (vgl. Scharpf 1993: 131). Auch sein Kollege Weidenfeld sieht den Vertrag nicht positiver. Im Hinblick auf die Entscheidungsfähigkeit der EU hat es keine ausreichenden Fortschritte gegeben (vgl. Weidenfeld 1996: 4).
Auch diese Kritik bleibt in der Wissenschaft nicht unbeantwortet. B. Guy Peters schreibt, daß die Entwicklungen von der EEA bis zum Vertrag von Maastricht mit einer möglichen »Politikverflechtungsfalle« undenkbar gewesen wären (vgl. Peters 1997: 25). Scharpf selbst schreibt, daß die prinzipielle Einführung von Mehrheitsentscheidungen zur Zeit noch gar nicht möglich seien. Denn aus demokratietheoretischer Sicht würden Mehrheitsentscheide ohne europäische Identität, europäische Medien und damit einer europaweiten Öffentlichkeit nicht von der Bevölkerung akzeptiert werden (vgl. Scharpf 1997: 10). Damit widerspricht er seinen früheren Forderungen nach Einführung von Mehrheitsentscheiden (vgl. Scharpf 1985).

III.3. Die EU-Osterweiterung

Mit der anstehenden EU-Osterweiterung kommen weitere Probleme auf die Europäischen Institutionen zu. Durch die Erhöhung der Zahl der Mitgliedsstaaten wird auch die Konsensfindung erschwert. Weiterhin gibt es sehr große wirtschaftliche Unterschiede zwischen den ehemaligen europäische Ostblockstaaten und den entwickelten Industriestaaten. Selbst der gegenwärtige »Status quo der Integration zeigt deutliche Anzeichen einer Überforderung der Institutionen und Entscheidungsprozesse«. Deshalb sieht Weidenfeld eine mögliche Blockade der Entscheidungen (Weidenfeld 1996: 3f). Und er prophezeit, daß die EU-Osterweiterung eine weitere Schwächung der Entscheidungsfähigkeit der EU zur Folge haben wird (vgl. Weidenfeld 1996: 5).
Deshalb schlägt Weidenfeld aus Effizienzgründen vor, Mehrheitsentscheidungen einzuführen. (vgl. Weidenfeld 1996: 4). Scharpf sieht dies anders. Er findet, daß Mehrheitsentscheide demokratietheoretisch bedenklich seien, weil diese von der Bevölkerung noch nicht akzeptiert würden (vgl. Scharpf 1995: 224).
Ein vielleicht realistischer Vorschlag zur Reform der Entscheidungsregeln ist die Möglichkeit einer positiven Enthaltung im Europäischen Rat. Diese Abstimmungsmöglichkeit soll für Mitgliedsstaaten bestehen, die nicht aktiv an einer Entscheidung mitwirken, aber ihr auch nicht im Weg stehen wollen (vgl. Weidenfeld 1996: 8).
Scharpf dagegen schlägt vor zu akzeptieren, daß die EU nur begrenzt handlungsfähig ist (vgl. Scharpf 1997: 11,14). Keine Einigung sei fast auf dem gesamten Gebiet der positiven Integration (neue Regelungssysteme) zu erwarten. Das beinhaltet sowohl die Beschäftigungs- als auch die Sozialpolitik.
Aber bei Maßnahmen der negativen Integration (Abbau von Regelungen) seien Fortschritte zu erwarten. Aber sogar auf dem weiten Handlungsfeld der einheitlichen Produktnormen oder der Außenhandelspolitik liegt ein großes Potential für eine erfolgreiche europäische Politik (vgl. Scharpf 1997: 14). Bleibt abzuwarten wie sich der europäische Integrationsprozeß weiter gestalten wird.

IV. Literatur


[1] Verwirrenderweise wird er teilweise als Rat der Europäischen Union bezeichnet
[2] Vgl. Archiv der Gegenwart, 14.07.1994. S. 39119
[3] Vgl. Scharpf 1985: 331-334

Zurück nach oben

Zurück zur Seite über Politikwissenschaft

Zuletzt geändert: Februar 1999 von Mathias Wieland.